AUSZUG AUS DEM BUCH "GAYA, DIE FEE DES FLUSSES"
Die tapferen Abenteurer
Das Floß aus Schilfrohr, auf dem, strahlend vor Glück, Hugo und Karl saßen, schwamm schnell flussabwärts, der Strömung des Klingenden Baches entgegen. Die Zwillinge steuerten das Floß fachmännisch: Mit einer leichten Bewegung des Ruders, das nur ein Stäbchen war, das sie mit Riedgras an eines der Schilfröhrchen angebunden hatten, lenkten sie ihr kleines Schiff dorthin, wohin sie wollten.
Sie vergaßen alles auf der Welt, denn es warteten aufregende Abenteuer auf sie. Über die Gefahren machten sie sich keine Gedanken. Was kann denn auch Schlimmes passieren, wenn sie auf dem Wasser schwimmen, während die Sonne, gelb wie die Blüte des Löwenzahns, am Himmel strahlt und der Glockenhelle Bach seine Lieder murmelt?
Aber nun hörten die am Sumpfrand wachsenden Birkenwäldchen auf, und der Bach floss durch einen dichten Tannenwald. Die Sonne konnte man beinahe nicht mehr sehen, der Bach wurde etwas stiller, die Strömung floss ruhiger. Die Zwillinge flößten ihr Schiffchen sehr vorsichtig und wichen den großen Steinen und den vermodernden Zweigen aus, die da und dort aus dem Wasser ragten.
Nach und nach wurde der Tannenwald ausgedehnter, und das Wasser trieb das Floß auf eine Wiese, auf der etwas sehr Seltsames vor sich ging. Die Frösche sperrten vor Verwunderung ihr Maul auf, denn sie bemerkten, wie sich eine Person in einem feuerroten Mantel und mit einem spitzen schwarzen Hut um die verschimmelten Reste eines alten Baumes im Kreise drehte. Plötzlich streckten und bewegten sich die halbverdorrten Baumstümpfe, und auf einmal wuchs ein drei Meter großer Riese mit trüben Augen aus der Erde.
„O wei!“, schrien die Frösche erschrocken.
Die Frau im Mantel schaute sich nach denen um, die da gerade geschrien hatten, doch der Bach trieb das Floß ans andere Ende der Wiese, wo der Laubwald begann.
„Wer war das denn?“, rief Hugo.
„Was war das?“ Auch Karl schrie verwundert und erschrocken auf.
„Wollen wir nicht lieber umkehren?“, schlug Hugo vor, „Mama macht sich bestimmt Sorgen.“
„Das ist wirklich keine gute Idee!“, sagte Karl entschlossen, „denn wenn wir wieder zurückkehren, lachen uns alle aus. Wir müssen doch unbedingt dieses rot, gelb und grün leuchtende Tier sehen!“
Den Laubwald durchquerten sie ziemlich schnell. Hinter der Lichtung wurde der Bach immer breiter, und jetzt floss er ruhig zwischen den Feldern hindurch, auf denen die Mohnblumen, der Hahnenfuß und der Löwenzahn üppig blühten… Inmitten all dieser Herrlichkeit weideten große, bunt gescheckte, gehörnte, langsame Tiere.
„Das sind doch mit Sicherheit Kühe?“, vermutete Hugo.
„Ja, das sind Kühe!“ Karl lachte auf, und sie erfreuten sich beide an diesem sonderbaren Anblick.
„Wir haben noch nie zuvor lebende Kühe gesehen! Ist ja irre! Niemand aus dem Sumpf hat sie je gesehen, nur wir! Wenn wir wieder zurückkommen, werden wir selbst Lehrer wie Molly zum Staunen bringen!“
Der Glockenhelle Bach wurde breiter und breiter – von allen Seiten strömten –andere Bäche, seine Brüder, in ihn hinein. Auf einmal konnte man ihn nicht mehr als Bach bezeichnen, der Glockenhelle Bach war zu einem richtigen Fluss geworden. Am rechten Ufer, erschienen hoch aufragend weiße Häuser aus Ziegelsteinen mit bunten Dächern. Jetzt schauten Hugo und Karl unaufhörlich in diese Richtung.
„He, ihr da auf dem Floß!“, vernahmen sie plötzlich eine leise Stimme,
„vergesst nicht, euch auch einmal umzuschauen!“
Die Zwillinge schauten sich um und sahen, wie sich ihnen ein großer Storch bedrohlich näherte, mit mächtigen Flügeln, die von weißen und schwarzen Rändern gesäumt waren.
Die beiden Frösche schrien vor Schreck laut auf, sprangen sofort kopfüber ins Wasser, das von Sonnenstrahlen schimmerte, und tauchten unter das Floß.
„Schaut bloß nicht heraus!“, hörten sie dieselbe Stimme in der Nähe, „ich werde den Storch ablenken!“
Neben ihnen zeigten sich die roten Flossen eines dicken Barsches, der mit einem leisen Platschen zu den vor Angst zitternden Fröschen glitt.
„Er ist weggeflogen!“ Der Barsch wisperte ihnen mit einem freundlichen Lächeln zu, er habe den Storch mit einer List abgelenkt.
„Wer war denn das?“, fragten die Frösche, nachdem sie wieder an die Wasseroberfläche gekommen waren. „Es wäre besser, wenn ihr das nicht wüsstet“, antwortete der Barsch seufzend und fragte voller Interesse: „Wo wollt ihr denn bloß hin?“
Die Zwillinge sprangen auf das Floß und erzählten dem Flussbewohner, dass sie unbedingt ein rot, gelb und grün leuchtendes Tier sehen wollten.
„Eine Ampel?“ Ihr Gesprächspartner bewegte nervös seine Lippen. „Von so einem Wundertier habe ich noch nie etwas gehört. Seid vorsichtig, auf dem Fluss ist es ganz schön gefährlich …Lebt wohl!“
Unvermittelt tauchte er ins tiefe Wasser, während ihm die Zwillinge dankbar mit ihren kleinen mit Schwimmhäuten versehenen Vorderbeinen nachwinkten.
„Lass uns eine kleine Rast einlegen!“, schlug Hugo vor, als sie gerade eine Flusskurve passierten und eine Stadt mit Hochhäusern erreichten. Auf der Straße am Ufer brausten Lastwagen entlang, sodass die Erde erzitterte. Blitzschnelle Personenwagen flitzten vorbei. Wieder verschlug es den Zwillingen der Atem: So etwas hatten sie noch nie gesehen. Sie standen wie angewurzelt am Steuer ihres Floßes und konnten den Blick gar nicht von diesen Wunderwerken lassen.
Schließlich aber ließ sie ein lautes, knatterndes Geräusch sich umwenden. Ein silberfarbenes Motorboot raste mit voller Geschwindigkeit auf ihr winziges Flößchen zu.
„Rette sich, wer kann!“, schrien die Frösche, tauchten ins Wasser und schwammen, so schnell sie nur konnten, ans rettende Ufer.
Angelikas Traum
Angelika, ein 10-jähriges, blondes, verständiges Mädchen, lebte zusammen mit ihrer Mutter Irina in einer kleinen Wohnung, von der man durch die Fenster den Fluss sehen konnte, der sich wie ein blaues Band um die Stadt schlängelte. Sie liebte, es am Fenster zu sitzen und zu beobachten, wie Schleppkähne langsam den Fluss durchpflügten, Motorboote vorbeiglitten und schöne Dampfer majestätisch vorbeizogen. Außerdem liebte es das Mädchen, Märchen zu lesen, vor allem zusammen mit ihrer Mutter. Meistens lasen sie die Bücher am Abend. Aber im Sommer, wenn Irina sich Urlaub nahm, lasen sie auch am Tage in den Büchern.
Eines schönen Tages im Sommer saßen sie gemeinsam am Fenster und lasen ein Märchen von einem Mädchen, das die Sprache der Tiere verstand. Als die Mutter das Buch mit dem bunten Umschlag zur Seite legte, sagte Angelika:
„Kann ich auch die Sprache der Tiere erlernen?“
„Machst du Witze?“, lachte Irina, „so eine Sprache gibt es doch nur im Märchen!“
„Egal“, Angelika kniff die Augen zusammen, „ich werde sie trotzdem erlernen und mich mit den Tieren und Vögeln unterhalten.“
„Nun, dabei kann dir nur der Waldkönig helfen.“ Die Frau streichelte liebevoll über die Haare ihrer Tochter, ihre bernsteinbraunen Augen glänzten.
„Der Waldkönig?“, lachte jetzt das Mädchen, „Mama, du glaubst an den Waldkönig? Waldkönige gibt es doch nur in Märchen.“
„Na ja, nicht immer“, sprach die Frau in ernstem Ton, „weißt du noch, wie ich dir zu deinem Geburtstag ein silbernes Kreuz geschenkt habe? Und deswegen“, und sie deutete mit ihrem Finger auf den strahlenden Himmel hinter dem Fenster, „deswegen denke ich, dass der echte König, nicht nur der Waldkönig, sondern auch unser Sternenkönig dort oben lebt…“
„Du gehst aber ganz schön hoch ran“, seufzte das Mädchen, „na gut, dann nehme ich das Kreuz und wir werden sehen…“
Irina ging in die Küche, um das Abendessen zu kochen, und Angelika holte das Geschenk ihrer Mutter aus dem Schmuckkästchen, drückte es fest in die Hand und fing an zu gähnen, während sie aus dem Fenster blickte…
„Schläfst du?“ Angelika vernahm plötzlich eine sanfte Stimme, und ein wundersamer rosa Nebel hüllte den ganzen Raum ein.
„ Glauben Sie, dass ich schlafe?“, murmelte Angelika.
„Ja, denn ich bin dein Traum“, antwortete es aus dem Nebel, der sich jetzt zu einer Wolke zusammenzog, die unter der Decke schwebte.
„Das ist ja unglaublich!“ Das Mädchen lächelte vor sich hin. „Das heißt, dass ich mich mit meinem eigenen Traum unterhalte.“
„Genau so ist es“, bestätigte die Stimme leise.
„Aber das gibt es doch gar nicht. Eigentlich schon, aber doch nur im Märchen.“
„Nun, du bist schon mitten in einem Märchen.“
„Man sagt doch, dass Märchen nur eine bloße Erfindung sind.“
„Sollen sie ruhig reden.“ Die Wolke lächelte „Die Grenze zwischen dem, was wirklich existiert, und dem, was eigentlich nicht existiert, ist verschwommen und fließend…Im Leben ist es unwichtig, wo du gerade bist, wichtig ist nur, mit wem du zusammen bist…Schau einmal aus dem Fenster. Dort warten sie auf dich.“
Das Mädchen öffnete die Augen und sah, wie einige struppige Nachbarsjungen spitze Pfeile in die Sehnen ihrer Bogen spannten und zum Fluss hinab liefen, wo eine schwarze Saatkrähe und eine kleine Meise mit langem Schwanz in der Luft schwebten.
Angelika steckte das Kreuz in ihre Rocktasche, schlug die Eingangstür hinter sich zu und rannte zum Fluss hinab.
Aus dem Russischen übersetzt von Joann Schwarz
© Illustration von Daniel Breininger, Aachen